Dass Romafamilien ihre Kinder weggenommen werden, hat eine jahrhundertelange, schmerzhafte Tradition. In Wien wurde am Wochenende einer Bettlerin ihre vierjährige Enkeltochter weggenommen. Die Kleine musste zwei Tage in einem Heim verbringen, dort konnte niemand ihre Muttersprache. Ulli Gladik, die zufällig Zeugin wurde, berichtet:
Freitagnachmittag werde ich von einer Bettlerin, die ich schon länger kenne, zu einer heulenden Bulgarin geführt. Die Frau kann kaum sprechen, so aufgeregt ist sie. Ihr Schwager erklärt mir, was passiert ist: Die Frau, nennen wir sie Frau Kostova, hatte am Nachmittag mit ihrer Enkeltochter am Schoß gebettelt. Sie wurde von der Polizei auf die Polizeistation mitgenommen, wo ihr dann das Kind weggenommen wurde. Sie wurde weggeschickt, ohne zu erfahren, was mit der 4jährigen Enkelin passiert. Es war keinE DolmetscherIn vor Ort, die hätte helfen können, der Frau Kostova weitere Vorgehensweisen zu erklären. Niemand, der das kleine Mädchen hätte beruhigen können.
Auf der Polizeistation, wohin ich die Familie dann begleite, erfahren wir, dass das Kind dem Jugendamt übergeben wurde. Ich vermute, dass das Kind bei der „Drehscheibe“ ist, rufe dort an und höre vom Leiter der „Drehscheibe“, dass das Kind dort ist „weil es von der Frau zum Betteln verwendet wurde“ und nun auch überprüft werden muss, ob sie tatsächlich die Oma sei. Frau Kostova fährt in Begleitung von ihren Verwandten in die „Drehscheibe“. Ein Mitarbeiter der bulgarischen Botschaft, der auch in die „Drehscheibe“ kommt, sagt ihr, dass das Kind nach ein paar Tagen dem Jugendamt in Bulgarien übergeben wird. Die Oma muss das schreiende Kind in der Drehscheibe lassen.
Samstag ruft mich Frau Kostova an. Sie bittet mich, in der „Drehscheibe“ anzurufen, weil sie wissen will, wie es der Kleinen geht. Frau Kostova spricht nicht Deutsch und in der „Drehscheibe“ spricht niemand Bulgarisch oder Romanes. Sie will die Kleine nicht in der „Drehscheibe“ besuchen, um ihr den Trennungsschmerz und das Heulen zu ersparen. Es gehe der Kleinen gut, erfahre ich von der Drehscheibenmitarbeiterin.
Sonntagfrüh kommen die Eltern der Kleinen in Wien an. Sie wurden von der Oma schon am Freitag verständigt, denn nur die Mutter darf das Kind abholen, konnte ich erfragen. Die Anreise vom Osten Bulgariens nach Wien dauert mit dem Bus eineinhalb Tage. Ein Flugticket kann sich die Familie nicht leisten. Wir treffen uns um 8 Uhr früh und gehen gemeinsam zur „Drehscheibe“. Die Kleine klammert sich sofort an die Oma. Sie sagt immer wieder: „Ich will gehen, Oma, gehen wir…“ Doch wir können nicht gehen, denn erst müssen der Leiter der „Drehscheibe“ und der Botschaftsmitarbeiter kommen. Ich will der Kleinen ein Stofftier schenken. Doch die Kleine beginnt sofort zu schreien. Die Oma meint, dass die Kleine sich an die Szene erinnert, als sie sie am Freitag in der „Drehscheibe“ zurücklassen musste, denn da versuchte man sie mit Spielzeug abzulenken. Es ist jetzt auch offensichtlich, dass es stimmt, was die Großmutter gesagt hat: das Mädchen hat zu ihr eine engere Beziehung als zur Mutter. Denn sie wächst bei der Großmutter auf, weil die Mutter ein schwer behindertes Kind hat. In Bulgarien ist es übrigens oft so, dass die Großmütter bei der Betreuung der Enkelkinder die Hauptrolle spielen.
Wir müssen insgesamt eineinhalb Stunden in der Drehscheibe warten, bis der Mitarbeiter der bulgarischen Botschaft kommt. Die Familie ist nervös, sie hat Angst, die Kleine wieder hier lassen zu müssen. Der Botschaftsmitarbeiter erklärt: „Das Gesetz in Österreich ist so, dass, wenn man mit einem Kind bettelt, dann kommt das Kind in ein Krisenzentrum. Wenn Sie nochmals mit dem Kind betteln, dann kann es sein, dass Ihnen das Kind überhaupt abgenommen wird.“
Er überprüft die Dokumente der Mutter, dann dürfen wir endlich gehen. Doch es bleiben viele Fragen:
Reicht Betteln aus, um einem so kleinen Kind die Bezugsperson wegzunehmen? Rechtfertigt Armut eine Kindesabnahme und wo sind die gesetzlichen Grundlagen dafür zu finden?
Wenn überprüft werden muss, ob die Großmutter tatsächlich die Großmutter ist: Hätten Kind und Großmutter nicht das Recht auf einEn DolmetscherIn? Hat das Kind nicht das Recht auf muttersprachliche Betreuung?
Warum wurde von den Behörden nicht die Telefonnummer der Oma aufgeschrieben? Man hätte die Mutter in Bulgarien erreichen können. Und es bräuchte nur eine einfache amtliche Ausweiskontrolle, um festzustellen, dass sie tatsächlich die Mutter ist. Es könnte dem Kind ersparen, tagelang zuerst in einem österreichischen – und hier auch ohne muttersprachliche Betreuung – dann in einem bulgarischen Heim verbringen zu müssen – eine traumatische Erfahrung für jedes Kind.
Warum wurde die beglaubigte Vollmacht nicht anerkannt, die der Oma schriftlich das Recht gibt, mit dem Kind über die Grenze fahren kann?
Es gibt immer wieder Gerüchte, dass es so viele Fälle von Kinderhandel im Zusammenhang mit betteln gab. Warum gibt es bis heute keine Zahlen und keine Dokumentation über diese Thematik?
Müsste dem Kind/der Familie nicht ressentimentfrei begegnet werden? Müsste nicht hier auch die Unschuldsvermutung gelten? Würde mit der Familie auch so umgegangen werden, wenn sie keine RomNija wären?
Und ja, Kinder dürfen nicht zum Betteln benutzt werden. Aber ist es denn nicht notwendig, in jedem einzelnen Fall auch die Umstände genauestens zu untersuchen? Hat unser Staat das Recht, pauschal zu urteilen und so über die Bedürfnisse hilfsbedürftiger Mitmenschen hinweg zu fegen? Dürfen Grundrechte missachtet werden, mit der Rechtfertigung einer verallgemeinernden Gesetzeslage?
Schlagwörter: Bettler, Drehscheibe, Kindesabnahme, Roma, Wien
September 20, 2014 um 12:00 pm |
und ergänzend zu den vielen und äußerst berechtigten Fragen von Uli möchte ich noch die Frage anfügen, warum hier die Drehscheibe mitspielt, ohne Bereitstellung muttersprachlicher Betreuung, ohne Einladung an die Großmutter (sofern das Kind das wünscht, versteht sich) zum gemeinsamen Aufenthalt, bis die Angelegenheit geklärt ist. Offensichtlich steht es um die Professionalität der Drehscheibe, für kindgerechte Rahmenbedingungen zu sorgen, nicht zum Besten
September 20, 2014 um 8:01 pm |
entweder war die Vorgangsweise nicht gesetzeskonform oder es ist das Gesetz nicht in Ordnung ; jedenfalls scheint mir hier eine Klagsmöglichkeit gegen die Republik oder gegen das Land gegeben. Es kann doch nicht sein, dass das Kind als strafunmündige Person durch eine derartige Traumatisierung praktisch bestraft wird.
Karl Misauer
September 22, 2014 um 4:32 pm |
„In Bulgarien ist es übrigens oft so, dass die Großmütter bei der Betreuung der Enkelkinder die Hauptrolle spielen.“ nicht nur in Bulgarien, auch bei Uns und in der übrigen Welt ist das so.
Oktober 14, 2014 um 11:57 am |
[…] in deutscher Sprache: https://bettellobbywien.wordpress.com/2014/09/17/vierjahrige-enkeltochter-im-heim-bericht-einer-kinde… […]